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Sound mit System

Retail

„Des gfällt mir ned. I mog Pur.“ Robin Hofmann bleibt cool. Er weiß, über Geschmack lässt sich nicht streiten. Schon gar nicht mit dem Kunden. Eine Standardsituation in seinem Business, und Hofmann, dunkelblonder Seitenscheitel, mit einer Gesichtsfarbe, die auf Outdoor-Aktivitäten schließen lässt, hat Standardsituationen trainiert. Er zeigt auf das von ihm entwickelte Sound Manual auf dem Bildschirm, ein Kreisdiagramm, in dem nach dem ersten Briefing der Marke rund zwei Dutzend Musikstile aufgefächert sind – von Electro Pop bis Nu Folk. Einzelne mit dem Kunden vorausgewählte Songs sind hier mit einem Punkt räumlich verortet. „Pur ist ungefähr hier“, sagt Hofmann und weist mit dem Finger rechts außen neben den Fächer. „Wir können nun so reagieren, dass wir das Spektrum erweitern, oder wir suchen eine Band, die ähnlich klingt und sich innerhalb der Markenarchitektur bewegt, um die es geht. In 99 Prozent der Fälle will der Kunde beim aktuellen Manual bleiben.“

Corporate Sound und Instore Music, das ist die Kernkompetenz von Robin Hofmann und seinem Kompagnon Felix Haaksman. 2005 beschlossen die Freunde, die gemeinsame Musikleidenschaft mit ihrem Interesse für Marketing zu verbinden, und gründeten die Agentur Hear Dis. Heute sitzt Felix am Standort Berlin, Robin in Stuttgart. Wie klingt Hugo Boss? Was ist der Sound von Vitra? Diese Frage stellen sich die rund 20 Mitarbeiter in den beiden Dependancen täglich.

In der Stuttgarter Innenstadt blitzen vier High-End-Kopfhörer in der Frühlingssonne, die das Loft der Agentur in der zweiten Etage einer ehemaligen Textilfabrik flutet. Vier Musikexperten hören sich durch Songs, ordnen sie Kategorien wie Indie Pop, Deep House, Nu Classical zu, bestimmen Herkunft, Klangfarbe, Rhythmus, Instrumentalisierung, Stimme, Textinhalt und Schnelligkeit. Circa fünf Minuten dauert diese Analyse. „Jede Woche erscheinen bei Spotify 20 000 neue Stücke“, erklärt Robin Hofmann, der auf einer langen Holzbank sitzt, und schiebt sich eine Erdbeere in den Mund. Da durchzublicken und für Kunden wie AMG, Birkenstock, Walter Knoll, Motel One, Mykita oder Rimowa jene Musik herauszufiltern, die zur Marke passt, ist die Hauptaufgabe in Stuttgart.

1000 Euro gibt Hear Dis im Monat für neue Soundfiles aus. Die gehen meist an Bandcamp, eine Artist-to-Fan-Plattform, die sich, anders als Spotify, mit kleinen Margen begnügt und den Künstlern den Großteil der Einnahmen überlässt, aber auch an Ratzer Records, einen Stuttgarter Plattenhändler. Ein Großteil der Musik, die Hear Dis in Playlists zusammenstellt, wird in den Stores und Showrooms der Marken oder auf Messen gespielt. Ein Monatsabo, bei dem die Kunden alle vier Wochen etwa einhundert neue, ausgesuchte Soundfiles bekommen, kostet pro Verkaufspunkt rund 70 Euro. Circa 1200 sind es derzeit. „Spotify hat ein Unternehmen gegründet, Soundtrack Your Brand, das diesen Service zu Dumpingpreisen anbietet. Allerdings ohne die Marketingkompetenz, die persönliche Beratung und die Zielgruppenanalyse, die wir betreiben.“ Garantiert ist bei Hear Dis auch die hohe technische Qualität der Soundfiles. MP3-Formate, die auf Kosten der Klangqualität kleingerechnet sind, sind hier kein Thema.

„It’s good to have friends“ steht auf dem Rücken von Robin Hofmanns blauer Hemdjacke, dem Ergebnis einer Koop zwischen einem Münchner Designerlabel und einer Plattenfirma. Hofmann verfügt noch aus DJ-Tagen über reichlich Kontakte. Viele seiner Mitarbeiter sind alte Freunde. So auch Freddy, ein ehemaliger Plattenhändler, der ihm sein erstes Aphex-Twin-Album verkauft hat und nun hier konzentriert in seine Kopfhörer hineinlauscht. Aphex Twin war wichtig für Hofmann, doch es war die Liebe zum Hip-Hop, die den gebürtigen Dresdner nach Stuttgart verschlug. Schon während des Grafik-Design-Studiums stand er an den Turntables, bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen. „Wenn ein Frankfurter Banker am frühen Morgen zu mir kam und mich, die Krawatte zum Stirnband gebunden, fragte, was in aller Welt ich da aufgelegt hatte, dann war das für mich ein guter Abend.“ Zweimal im Monat jettete er nach Moskau und St. Petersburg, aber auch New York stand immer wieder auf dem Plan. Vom finsteren Club bis zur Tauffeier – Hofmann war sich für nichts zu schade, ihm gefiel die Abwechslung.

Sich selbst zurücknehmen, den eigenen Musikgeschmack hintenanzustellen, das war auch damals schon Teil seines Erfolgs. Dennoch gibt es bei Hear Dis Hürden, die im Umgang mit dem Kunden überwunden werden müssen. „Die semantische Lücke“ nennt der Musikexperte Hofmann die Diskrepanz, die auftritt, wenn zwei Menschen das gleiche Wort benutzen, aber Unterschiedliches damit meinen. Für den einen ist Gangsta Rap von Snoop Dogg der Inbegriff des Cool, für den anderen vielleicht ein Synthie-Song des französischen Elektropopduos Air oder eine Hymne von T. Rex. „Machsch was Fetziges!“ ist ein Briefing, das auch in die Hose gehen kann.

2013 nahm sich Hofmann vom Agentur-Leben eine Auszeit. Ein Jahr lang arbeitete er als Ranger in einem Nationalpark in der Sächsischen Schweiz. Tagsüber zählte er Falkenküken und half Feuersalamandern über die Straße, in seiner Freizeit kletterte er. Free Solo. „Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Langeweile im positiven Sinne.“ In dieser Lebensphase kam ihm die Idee zu ABC_DJ. Warum sollte nicht auch ein Rechner Songs kategorisieren können? Viele der Eigenschaften waren ja ohne Weiteres messbar! Und andere zu erkennen könnte man ihm vielleicht beibringen. „Ich hatte im Mathe-Abi genau einen Punkt“, lacht Hofmann und schenkt sich Wasser nach. „Dass ich mich einmal mit Algorithmen auseinandersetzen würde, war also alles andere als vorprogrammiert.“ Deep Learning nennen es die Fachleute, wenn ein Rechner über Datenfutter und ständige Wiederholung in die Lage versetzt wird, immer feinere Unterscheidungen zu treffen. Genau das ist das Prinzip von ABC_DJ, dem Projekt, das der damals 38-Jährige nach seiner Rückkehr aus dem Sabbat-Jahr ins Leben rief. In Zusammenarbeit mit sieben Unternehmen aus fünf Ländern gelang es ihm, an einem EU-finanzierten Forschungs- und Entwicklungsprojekt teilzunehmen.

18 000 eingespeiste Tonträger später steht ABC_DJ kurz vor der Produktreife. 30 Sekunden benötigt das Programm, um einen Song zu klassifizieren, damit können ganze Musikarchive über Nacht entschlüsselt werden. Dank einer Befragung von 10 000 Probanden, die 550 Musikstücke 36 Eigenschaften zuordnen sollten, ist man jetzt zudem in der Lage, Markeneigencharakteristika und Zielgruppenmerkmale direkt mit Musikstilen zu verknüpfen. Und Hofmann feilt schon an der nächsten Idee. Kundenfrequenz und Verweildauer in den Stores, Wetter und Tageszeit sollen in die Playlists miteinbezogen werden.

Hofmanns Geschäftspartner Felix Haaksman ist gerade aus der Hauptstadt angereist. Graumeliertes T-Shirt und weiße Sneakers. Zusammen gehen sie ein paar strategische Punkte durch und planen dann den gemeinsamen Osterausflug auf die Schwäbische Alb mit den Kindern. Seit er einen Sohn hat, verzichtet Robin auf Wunsch seiner Frau auf die Free Solos beim Klettern. Die sportliche Einstellung lebt er nun im Geschäftsleben aus: „Im Moment haben wir einen Vorsprung von drei Jahren gegenüber unserer Konkurrenz. Sollte aber ein Unternehmen wie Spotify richtig viel Geld in die Hand nehmen, könnten sie das wohl auch aufholen.“ So sorglos, wie er das sagt, klingt es nach Klettercontest unter Kumpels. Wer hätte wirklich die Nase vorn? Ungewiss, schließlich hat Hear Dis rund zwei Dutzend weiterer Ideen in der Schublade.Man wird wohl noch von ihnen hören!

 

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August 2019