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Pedalkraft

Fashion / Travel

Simon Mottram nimmt gerade die zweite Weltumrundung in Angriff, allerdings ohne seine Heimatinsel zu verlassen oder gar den Kontinent zu wechseln, morgens vor dem ersten Meeting. Knapp 47 000 Kilometer ist er in den letzten zwanzig Jahren allein im Londoner Regent’s Park gefahren, das ist jedoch nur ein Bruchteil dessen, was er insgesamt auf dem Tacho hat. Schließlich lässt der CEO des Londoner Radsportlabels Rapha keine Gelegenheit aus, sich in den Sattel zu schwingen. „Neulich sind ein paar Jungs hier fünfhundert Kilometer am Stück gefahren. Die konnten nach den 18 Stunden nicht mehr geradeaus gehen“, erzählt er, als wir uns am Mittwochmorgen zum Radfahren treffen. Obwohl erst später Vormittag hat die Aprilsonne das Quecksilber in die Höhe gejagt. Ein paar Radsportler sind schon vor Ort. Man grüßt sich.

Inner und der Outer Circle heißen die beiden Rundstrecken im Regent’s Park. Die eine misst einen Kilometer, die andere viereinhalb. Besonders der Inner Circle ist bei der Community beliebt, weil frei von Autoverkehr. Auch einige Mitglieder der Rapha-Belegschaft haben sich eingefunden. Wie jeden Mittwoch steht ihnen der Vormittag zum Radfahren zur Verfügung, man tritt gemeinsam in die Pedale, fährt üblicherweise eine 90-Kilometer-Tour im Norden der Stadt, oder, wenn es Zeitplan, Wetter oder Kondition nicht zulassen, eben hier. Um 13 Uhr sind dann in der Regel alle wieder im Rapha-Hauptquartier zurück, das sich praktischerweise nur wenige Radminuten vom Regent’s Park entfernt befindet.

Das gute Wetter hat die königliche Grünanlage im Zentrum von London in ein Blütenmeer verwandelt, es duftet intensiv und süß. Ein Parfüm, das London nur an sehr wenigen Tagen im Jahr auflegt. Die Stimmung ist dementsprechend ausgelassen. Langsam setzt sich unser Grüppchen in Bewegung. Simon Mottram und ich vorneweg, die anderen fünf in unserem Windschatten. Ihre mit glänzendem Lycra bespannte Beinmuskulatur müssen die Verfolger bei unserem gemäßigten Plauder-Tempo kaum bemühen. Mottram selbst ist am frühen Morgen schon fünfzig Kilometer gefahren, um heute auf jeden Fall auf seine Kosten zu kommen. Der Mittwoch ist ihm heilig.

„Die besten Gespräche führst du auf dem Rad“, sagt der 52-Jährige. „Man hat ein gemeinsames Ziel, eine Blickrichtung und zwischenzeitliches Schweigen stört niemand, die Bewegung beflügelt die Gedanken.“ Ich nicke kurz und wir schweigen einen Moment einvernehmlich. Gut, dass er meine Interessenbekundung, ein paar gemeinsame Runden zu drehen, richtig verstanden und nicht als Wunsch nach einem Wettrennen fehlgedeutet hat, denke ich und atme tief durch. „Ich schätze mich sehr glücklich, meine Leidenschaft in diesem extremen Maß ausleben zu können“, fährt Mottram neben mir mit ruhiger Stimme und in einem angenehm distinguierten Londoner Englisch fort. Er scheint Understatement der Übertreibung vorzuziehen. Und das, obwohl seine Geschichte einem Hollywood-Drehbuch entstammen könnte: Ein Mann, der für den Radsport brennt, besucht die Rennen und jubelt den Profis beim Giro d’Italia und der Tour de France vom Straßenrand aus zu. Er ist Marketingexperte für Luxusmarken, reist beruflich durch die ganze Welt. Die größten Momente jedoch hat er, wenn er vornübergebeugt im Sattel sitzt. Was ihm allerdings nicht gefällt, sind die Trikots und Hosen, die auf dem Markt sind. Zu bunt, untragbar. In Mottram keimt der Wunsch, es besser zu machen.

Sieben Jahre später verpasst er weiterhin keine Tour, keinen Giro. Und jetzt grüßen ihn die Profis. Sie tragen Kleidung seiner Marke und verabreden sich mit ihm zu Freundschaftstouren. Doch um so weit zu kommen, musste sich Mottram anfangs buchstäblich abstrampeln. „Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, eine eigene Marke zu gründen, habe ich zunächst fünf Jahre obsessiv recherchiert. Ich habe Stoffhersteller, Bekleidungsproduzenten, E-Commerce-Spezialisten, Einzelhändler, Radrennfahrer, Chefredakteure der einschlägigen Magazine getroffen und alle wichtigen Messen besucht, um mir ein Netzwerk aufzubauen. Zwar konnte ich mich als Konsument in die Psyche eines Radsportlers einfühlen und kannte dessen Bedürfnisse. Was Produktion und Vertrieb anging, hatte ich jedoch keinerlei Erfahrung.“

Von 2001 bis 2003 putzt Mottram Klinken. Als Vater eines autistischen Jungen hat er familiäre Verpflichtungen und kann kein finanzielles Risiko eingehen. „Ich habe über zweihundert Gespräche mit Investoren geführt, um per Fundraising 140 000 Pfund für den Launch der Marke zusammenzutragen. Heute ist so etwas eine Sache von drei Monaten.“ Was war das Problem? „Wir waren die ersten, die Idee war sehr neu. Wo ich auch hinkam, empfing mich Skepsis. Britische Männer kaufen funktionelle Radsportbekleidung im Internet? Never ever!“ Am Ende waren es Simons Freunde und Familie, die ihm Summen zwischen 10 000 und 30 000 Pfund zur Verfügung stellten. Dass Rapha sich als veritabler Goldesel entpuppen würde, daran glaubte im Gründungsjahr 2004 niemand.

Dann endlich der Startschuss: Gemeinsam mit dem Designer Luke Scheybeler produzierte Mottram die ersten fünf Styles im Rapha-Signature-Look, der so ganz anders war: elegant nämlich, sophisticated – und dunkel. Schwarze und marineblaue Jerseys und Bibshorts, wie die Radhosen mit dem eingearbeiteten Sattelpolster genannt werden, gebrandet mit kleinen, leuchtend pinken Details, der Farbe des Giro d’Italia. Dazu eine aus Marketingsicht gute Entscheidung: Parallel zum Launch der kleinen Range organisierte die junge Marke eine Ausstellung in der Old Truman Brewery auf der Brick Lane in Shoreditch. ‚The Original Kings of Pain‘, eine Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien, zeigte die Helden des Radrennsports: Fausto Coppi, Jacques Anquetil, Raymond Poulidor, Eddy Merckx, Tom Simpson und Bernard Hinault, eingefangen in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Sie sehen aus wie Filmstars. Schön wie Gregory Peck, verwegen wie James Dean. Dazu ein paar Devotionalien und die Kollektion klein und fein in einer Ecke. Alles sehr stilsicher.

Seither ist viel Wasser die Themse heruntergeflossen. Aus drei Angestellten 2004 wurden bis heute 350. Und aus 28,7 Millionen GBP Umsatz 2013 im Laufe der nächsten drei Jahre 67 Millionen GBP. 2017 waren es bereits 85 Millionen. Jährliche Wachstumsraten von über 30 Prozent, völlig unbeeinflusst von den regelmäßig enthüllten Dopingskandalen und der weltweiten Finanzkrise? Respekt! Gibt es ein Geheimnis? Sure, ja. Das Geheimnis ist die Gemeinschaft, die Community. „Auf sie bin ich wirklich stolz“, sagt der grau melierte Mottram. Am Anfang stand die Idee, sogenannte Clubhäuser zu etablieren, die nicht nur als Flagship der weitestgehend online vertriebenen Produkte dienen sollten, sondern auch als Treffpunkt und Servicezentrale für die Kunden. Die Clubhouses wurden begeistert frequentiert – die Community biss an. Daher war es nur die logische Konsequenz, 2015 zu den Häusern auch einen Club ins Leben zu rufen. Von Sidney bis San Francisco betreibt Rapha heute weltweit 22 Clubhäuser, die Mitgliederzahlen des RCC, des Rapha Cycling Clubs, sind innerhalb von knapp drei Jahren auf 13 000 Mitglieder hochgeschnellt. Die gemeinsamen Erlebnisse auf Ausfahrten und Reisen sind der Kitt, der die Gemeinde zusammenhält. Aus Marketingsicht: unbezahlbar.

Nach meiner zehnten und Mottrams etwa 10 000. Runde steht die Sonne im Zenit und es wird Zeit aufzubrechen. Wir verlassen den Park und nehmen Kurs auf das Headquarter im Up-and-coming-Viertel King’s Cross. London gilt ja mittlerweile als Cycling Hub, ich aber finde den Parcours durch den Stadtverkehr mit seinen angriffslustigen Big Five – Doppeldecker, Black Cab, SUV, Müllauto und Ambulanz – ziemlich halsbrecherisch. Zum Glück führt Simon uns versiert durch die Engpässe. Dennoch: Es gibt Strecken, die ich den stark befahrenen Straßen von Camden entschieden vorziehen würde. Die einsamen südfranzösischen Gebirgsrouten, zu denen die von Rapha organisierten Sportreisen führen – sie scheinen mir beispielsweise weit verlockender.

Wir rollen über eine kleine Rampe ins Office und am Café vorbei zur ebenerdigen Fahrradgarage. Kaum einer ist hier über dreißig, Personal und Setting erinnern an eine Mischung aus ultrahippem Start-up und Radverleihstation. Alle Angestellten bekommen bei Firmeneintritt eine Startnummer, die sich auch an ihrem Haken im Fahrradlager wiederfindet. Hier kann man sein Zweirad parken, an dem transparenten Board an der Kopfseite der Hakenreihe wird alljährlich neben der Nummer ein persönliches sportliches Ziel formuliert. Das kann eine bestimmte Kilometerleistung sein, oder eine Tour, die man immer schon fahren wollte. Ohne Schweiß kein Preis. Diese Formel ist unverkennbar Teil der Firmenphilosophie.

Bevor Mottram ins nächste Meeting verschwindet, bleibt Zeit für eine letzte Frage: Im August 2017 wurde ein Großteil der Firma für 200 Millionen Pfund an RZC, einen Investor mit Sitz in Hollywood verkauft. Dahinter stecken Steuart und Tom Walton, die Enkel des Walmartgründers Sam Walton. Was war der Grund für den Verkauf? „Wir sind an einem Scheideweg angekommen. Rapha hat großes Potenzial. Um dieses jedoch auszuschöpfen, sprich, um die Bergetappe anzugehen, brauchen wir Finanzkraft“, erklärt Simon. Nun, die haben die Waltons ja. Sie gelten als die reichste Familie der Welt. So wird die filmreife Story also tatsächlich in Hollywood weitergeschrieben? Das werden die nächsten fünf Jahre zeigen. „Wir wollen jährlich zwei bis drei Clubhäuser eröffnen. RCC könnte ohne weiteres 50 000 Mitglieder haben. Und Rapha ein 200 bis 250 Million Pfund schweres Business werden. Unsere größte Herausforderung dabei: zu wachsen, ohne an Glaubwürdigkeit einzubüßen.“

Glaubwürdigkeit? Ist gegeben. Nur widerwillig lasse ich mein schnelles Gefährt an seinem Haken zurück und mich selbst an diesem warmen Frühlingstag wieder von der Londoner Tube einsaugen. Kurz bevor mich der Underground verschluckt, wird mir klar: Ich habe mich angesteckt.

 

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August 2018