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The Weekender

Der Kapitän

Interior Design / Interview

Nils Holger Moormann ist nicht nur ein freigeistiger Möbelproduzent, er führt auch das wohl unkonventionellste Gasthaus der Voralpen. In seinem „Haus Berge“ trifft urbayerische Bausubstanz auf ein Konzept, das von Intellekt und Humor durchdrungen ist: Man wohnt stilbewusst und selbstversorgend mit den Moormannschen Möbeln, besucht die Bergalmen, Badeseen und Biergärten des Chiemgaus und verliebt sich en passant in die pfiffigen Produkte des querdenkenden Möbelmanns. Und tatsächlich: Es funktioniert! Wir trafen den 59-jährigen Visionär in seinem Hauptquartier, gleich vis-à-vis von „Berge“, und sprachen mit ihm über die Arbeit und das Leben in seiner Wahlheimat Oberbayern.

Wie wir bei der Anreise feststellen konnten, ist Aschau im Chiemgau ein wunderschöner Flecken Erde. Aber auch etwas ab vom Schuss. Wie hat es Sie hierher verschlagen?
Meine Eltern haben die Berge immer geliebt. Als Betreiber eines Familienunternehmens waren sie lange an Stuttgart gebunden. Doch als das Unternehmen schließen musste, zogen wir um ins Chiemgau. Ich war damals 16 Jahre alt und fand es zunächst fürchterlich. Nach der ersten Wanderung änderte sich meine Einstellung. Jetzt ist das Chiemgau mein großes Lebensglück. Die Kombination von alpiner Landschaft und dem Gefühl von Weite, das sich beim Blick Richtung Chiemsee einstellt, finde ich perfekt. 

Sie gelten als Querdenker. Ist es für Sie nicht schwierig, in so einer kleinen Gemeinde zu leben?
Ganz ohne Abwechslung wäre es das wohl. Aber da ich viel unterwegs bin, ist Aschau für mich der wunderschönste Hafen, den man haben kann. Natürlich gibt es auch Reibereien. Zum Beispiel habe ich versucht, mich kommunalpolitisch zu engagieren, im sogenannten Gestaltungsbeirat. Doch in solchen Vereinigungen muss man immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner kommen, und das fällt mir schwer. Ich bin es einfach gewohnt, als Kapitän meines eigenen Schiffs schnell mal den Kurs wechseln zu können. 

Sind Ihre Möbel von der Gegend inspiriert?
Das nicht, nein. Ich wohne zwar leidenschaftlich gern hier, könnte mein Unternehmen aber auch anderswo führen. Anfangs schien die Idee, sich hier anzusiedeln, auch eher abwegig. Es fehlte einfach die nötige Infrastruktur. Das hat sich aber geändert. Heute ist die Umgebung Grund dafür, dass die Kollektion so ist, wie sie ist. Tatsächlich fertigen wir heute alles lokal, das heißt im Umkreis von 30 Kilometern. Die unmittelbare Konsequenz daraus: Bestimmte Ideen lassen sich einfach nicht umsetzen. Das bedeutet einerseits eine gehörige Beschränkung, zugleich aber ist es ein Alleinstellungsmerkmal, das unseren Stil prägt.

Ihr „Haus Berge“ ist architektonisch betrachtet ein wahrer Traum. Hatten Sie schon immer den Wunsch, Ihre Möbel in einem solch außergewöhnlichen Kontext zu zeigen?
Nein, eigentlich nicht. Die Idee wurde eher aus der Not geboren. Zunächst wollte ich auf dem Gelände eine Lagerhalle bauen, was dann aber aus vertragsrechtlichen Gründen nicht ging. Daraufhin habe ich mich darangemacht, das denkmalgeschützte alte Bauernhaus, das auf dem Grundstück stand, zu renovieren. Es hätte den nächsten Winter sonst nicht überstanden. Das Projekt hieß zunächst intern nur „Grand Hotel Aussichtslos“, aber ich hatte Spaß. Für mich bestand der Luxus darin, machen zu können, was ich wollte. Ich war schließlich nur mir selbst verpflichtet. Nur ein Beispiel: In einem der Räume, der sogenannten „Hohen Kammer“, habe ich zweimal das Fenster ändern lassen. Zuerst wollte ich es breiter, dann, zwei Tage später, habe ich gesehen: Au weia, zu breit! Also wurde das Fenster wieder schmaler gemacht. Zum Glück habe ich die richtigen Leute, die mich bei solchen Kapriolen unterstützen.

Sie gelten als kompromisslos. Würden Sie sich als Perfektionisten bezeichnen oder lediglich als konsequent?
Konsequent bin ich. Ich mag es einfach, die Dinge bis zum Ende durchzudenken. Perfektionist? Jein. Ich bin leidenschaftlicher Frickler und mache Sachen mit leichter Hand. Das ist in meinen Augen nicht perfektionistisch. Ist man zu streng mit sich selbst, verrennt man sich nur. Dann gibt es da noch die Qualität, eine Art Schwester der Konsequenz. Qualität ist mir sehr wichtig. Sie steht bei mir für die Maxime: Mach nur, wovon du wirklich überzeugt bist.

Können Sie mit dem Begriff der Gemütlichkeit etwas anfangen?
Ja, Gemütlichkeit muss sein. Wenn ich die Einrichtung eines Hauses plane, begebe ich mich immer zunächst auf die Suche nach den Plätzen, an denen sich eine Katze oder ein Hund niederlassen würde. Dort setze ich dann an. In meinen Augen sollte die Einrichtung eines Hauses mit der Persönlichkeit des Bewohners korrespondieren. Wie man dieses Ziel dann in die Tat umsetzt, ist eigentlich vollkommen egal. Ich selbst bin zum Beispiel „Kleinhäusler“. Ich lebe in einem uralten Haus mit 1,98 Meter Deckenhöhe, die Türstöcke sind sogar nur 1,70 Meter. Abgesehen davon, dass ich mir oft den Kopf stoße, passt dieses Haus ganz wunderbar zu mir und meiner Vorstellung von Gemütlichkeit. 

Und Kitsch?
Ich finde Kitsch toll! Und mag es gar nicht, wenn man versucht, in allen Lebenslagen abgeklärt zu ein. Kitsch ist ein wunderbares Mittel, um mal Fünfe gerade sein zu lassen. Genau wie Humor kann Kitsch steriles Design lebendiger und interessanter machen. Das Maß muss eben stimmen.

Was sagt Ihnen die vielbeschworene Authentizität?
Authentizität lässt sich nicht käuflich erwerben. Wie Stil muss sie von innen kommen. Eine authentische Einrichtung ist eine mit der Zeit gewachsene Einrichtung. Wer mit einem Schlag alles neu kauft, muss auf Authentizität wohl oder übel verzichten.

Sie haben Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Bleibt noch Zeit für Hobbys?
Tatsächlich ist Zeit ein Problem. Wie schon gesagt: Ich bin sehr konsequent, was meinen Job betrifft. „Berge“ bedeutet zusätzliche Arbeit. Denn es kommt praktisch jeden Tag jemand zu Besuch, der mich gerne treffen möchte. Und ich ihn genauso! Da vermischen sich Geschäfts- und Privatleben ständig. Dabei brauche ich den Ausgleich zum Job dringend, bin ein Bewegungs- und Naturtier. Seit vielen Jahrzehnten mache ich einmal im Jahr einen langen Urlaub, bin dann fünf bis sechs Wochen am Stück unterwegs, ohne mich um die Firma zu kümmern. Das ist mir heilig.

Das klingt fantastisch. Wie sieht der ideale Urlaub aus?
Ich bin Globetrotter. Im Urlaub reizt mich das einfache Leben. Die letzten Jahre war ich ausschließlich mit dem Rad unterwegs, lediglich ein Zelt und eine Tasche voller Bücher im Gepäck. Entweder ich radle von hier aus los, beispielsweise nach Korsika oder Irland, oder ich fliege in die Ferne. Ich bin schon quer durch Afrika gefahren, und jüngst war ich in Burma – ein großartiges Abenteuer. Mir gefällt es, nah an Mutter Erde zu sein, und die Radel-Geschwindigkeit ist ideal, um ein Land zu erleben.

Sie reisen nicht nur mit jeder Menge Lektüre, sondern gelten auch sonst als großer Bücherfan. Was motiviert Sie als Leser – Weltflucht oder Weiterbildung?
Weltflucht. Ich lese wahnsinnig viel. Lesen ist für mich existenziell. Da meine Bibliothek immer mehr wächst, haben wir in „Berge“ eine wunderschöne Aktion namens „Liebling, ich tausch dich aus!“ ins Leben gerufen: Die Gäste werden aufgefordert, ihre Lieblingsbücher zu hinterlassen und dafür eines meiner Bücher mitzunehmen.

Haben Sie einen Lieblingsautor?
Jonathan Franzen mag ich sehr. Alain de Botton lese ich aus privaten und beruflichen Gründen. Ob in „Die Kunst des Reisens“ oder in „Glück und Architektur“ – de Botton ist ein Meister darin, komplizierte philosophische Zusammenhänge mittels einer einfachen Sprache verständlich zu machen. Einmal habe ich aber auch danebengegriffen: Sollten Sie Bücher sammeln, lesen Sie bloß nicht „Die Bibliothek bei Nacht“ von Alberto Manguel. Allein die Vorstellung, meine Bibliothek könnte wie von Manguel beschrieben aus den Fugen geraten, hat mich in eine solche Panik versetzt, dass ich in einer irren Tat die Decke herausgerissen habe. 

Zurück zu Ihrer Arbeit. Saison um Saison klappern Sie Ihre Kunden höchstpersönlich mit einem zum Wohnmobil umgebauten Kombi ab. Ist das nicht sehr aufwendig?
Ja, doch. Den Wagen habe ich „Créateur du Malheur“ getauft, und ich durchquere mit ihm regelmäßig die Republik. Es gibt für mich zwei gute Gründe dafür: Zum einen bin ich ein Frontschwein und möchte als Geschäftsführer die Nähe zum Markt nicht verlieren. Wenn sich etwas nicht verkauft, will ich einfach wissen wieso. Das ist durchaus anstrengend, aber es hat auch sein Gutes: So sind wir gezwungen, die Zahl unserer Kunden klein zu halten. In manchen Großstädten haben wir sogar nur einen einzigen! Zum anderen sparen wir Geld, das wir sonst in den Außendienst investieren müssten. Das stecken wir dann lieber in Printprodukte. Unsere Bücher, die wir anstelle von herkömmlichen Katalogen produzieren, haben schon zig Designpreise gewonnen, aber das ist nicht das Wichtigste. Für uns zählt die Botschaft. Wir haben uns mehr und mehr von den rein werblichen Medien losgesagt, um etwas zu entwickeln, das einfach schön ist.

Inwieweit ist „Berge“ für Sie ein Marketinginstrument?
Die Leute, die zu uns kommen, finden meist zunächst das Konzept von „Berge“ als Gasthaus interessant, entwickeln im Laufe ihres Aufenthalts aber für gewöhnlich auch ein konkretes Verständnis für unsere Arbeit. Denn seien wir doch ehrlich: Möbel produzieren viele, zum Teil ist das Preis-Leistungs-Verhältnis besser als unseres, weil im Ausland und in höheren Stückzahlen gefertigt wird. Bei uns kauft eigentlich nur, wer unsere Philosophie wirklich begreift. Dazu trägt „Berge“ natürlich bei. Die Einzelhändler, die hier vor Ort waren, verkaufen danach besser. Selbstverständlich hätte ich mit dem Geld, das ich in die Unterkünfte gesteckt habe, auch eine Werbekampagne starten können. So aber ist meine Botschaft ein physisch erlebbarer Ort. Besser könnten wir unsere Message wohl nicht transportieren.

Sie produzieren nur zwei bis höchstens fünf neue Produkte pro Jahr. Warum?
Wir haben sogar einmal zwei Jahre lang nichts Neues lanciert. Nicht, dass es uns an Ideen gemangelt hätte. Wir wollten einfach innehalten und unsere bestehenden Entwürfe verbessern. Ich bin nämlich ein großer Fan von Entschleunigung. Für die Presse war das Ganze allerdings schwierig. Besonders als wir dann auf der Mailänder Möbelmesse aufgeschlagen sind, mit nichts im Gepäck als einer Zeitung mit der Headline „Nichts Neues bei Moormann!“. Genau 34 Pressekits sind wir bei der Veranstaltung an Interessenten losgeworden. Ein Reinfall. Im darauffolgenden Jahr hatten wir drei neue Entwürfe dabei – und innerhalb von zwei Tagen 120 Pressemappen verteilt. Die Medien gieren einfach immer nach Neuheiten. Die Folge: Den Unternehmen fehlt oft die Zeit, ihre Produkte zur vollen Reife zu bringen. Ich will mir diese Zeit nehmen und muss mich zum Glück vor niemandem rechtfertigen.

Sie arbeiten mit externen Designern und einem eigenen Designteam. Wie entsteht bei Ihnen ein neues Möbel?
Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste: Wir geben ein Briefing heraus, in dem wir genau beschreiben, was wir uns wünschen, und ein externer Designer fertigt dazu einen Entwurf. Diesen Weg wählen wir oft, auch wenn der Abstimmungsprozess mühsam ist. Schließlich sitzt bei uns ja ein fünfköpfiges Designteam, dem der Entwurf gefallen muss. Die zweite Möglichkeit: das sogenannte Lotteriedesign. Wir sind dafür bekannt, auch fremde Entwürfe zu realisieren, und daher erreichen uns pro Tag vier, fünf Ideen. Allerdings realisieren wir insgesamt nur zwei Möbelstücke pro Jahr. Dementsprechend schlecht stehen die Chancen für einen unverlangt eingereichten Entwurf von außen. Doch es kann tatsächlich passieren, dass wir ein externes Design annehmen und ein eigenes Produkt dafür verwerfen, selbst wenn wir schon monatelange Entwicklungsarbeit hineingesteckt haben. Wenn der eingereichte Entwurf besser ist als unserer, bin ich gnadenlos konsequent. Womit wir bei der dritten Option wären, die da lautet: Wir entwerfen selbst.

Auch Sie persönlich?
Ich bin zwar kein Designer, aber kann doch nicht umhin, ab und zu eine Idee aufzuskribbeln, besonders wenn ich auf meinen langen Kundenreisen in den Stau komme. Mein Designteam ist meist nur mäßig begeistert von meinen kryptischen Kritzeleien. Das führt sogar dazu, dass sie mir vor meiner Abreise ein Post-it aufs Lenkrad kleben: „Wir wünschen allzeit freie Fahrt!“ Dennoch kommt es manchmal vor, dass wir meine Entwürfe realisieren, wie im Fall der Terrassenmöbel „Kampenwand“ oder des Lesesessels „Bookinist“. Der wurde ursprünglich als Standmobiliar für die Mailänder Möbelmesse gebaut, in nur zweifacher Ausführung, ist dank großer Nachfrage schließlich aber doch in Serie gegangen. Wir haben uns dann den Spaß erlaubt, den Sessel in einer durchnummerierten limitierten Auflage von 228.000 Stück anzubieten.

Sie haben sehr früh schon mit Konstantin Grcic zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?
Als wir uns trafen, stand Konstantin Grcic noch am Anfang seiner Karriere. Doch man konnte spüren, dass echtes Talent in ihm schlummert. Ich fand seine Herangehensweise faszinierend. Er hat ja so einen intellektuellen Ansatz, entwickelt sehr sperriges Zeug, das auch meiner Designauffassung entspricht.

Sehen Sie momentan einen anderen aufgehenden Stern am Designerhimmel?
Na ja, es gibt schon Nachwuchs. Aber Konstantin spielt in einer eigenen Liga. Er hat künstlerische Vorbildung und ist sehr reflektiert. Daneben gibt es Leute mit breitem fachlichen Hintergrund, die beispielsweise tolle Materialideen entwickeln. Dadurch dass wir, anders als andere, nicht nur mit den allseits bekannten Größen arbeiten, sehe ich mich auch als Schmied für das junge Designerglück. Umso mehr schmerzt es mich, so oft Absagen erteilen zu müssen. Viele Firmen setzen nur auf etablierte Namen – das ist wirklich schade. Da kommt der Nachwuchs viel zu kurz. Ich wünsche mir von der Industrie mehr Vertrauen in die Ideen der Newcomer.

Apropos Vertrauen: Sie haben mal gesagt, dass Sie mit Ihrem Designteam gerne gemeinsam verreisen. War das wörtlich oder metaphorisch gemeint?
Das haben wir früher tatsächlich ab und zu gemacht, als wir noch Zeit dafür hatten. Da gab es dann die berühmten „Almräusche“. Wir sind ein paar Tage in die Berge gefahren, haben dort oben übernachtet und nach feucht-fröhlichen Nächten einige Wanderungen unternommen. Wenn man zusammen eine anstrengende Tour wandert, lernt man sich ganz anders kennen. Diese menschliche Nähe kann später sehr hilfreich sein, wenn man bei der Arbeit an einen schwierigen Punkt gelangt.

Wenn man Ihnen eine große Summe Geld zur Verfügung stellen würde, was würden Sie damit machen?
Ich finde Geld nicht wirklich interessant. Ich kenne einige reiche Leute – nur wenige von ihnen sind entspannt. Man hat ja so viel zu verlieren, wenn man viel besitzt. Mich faszinieren Ideen, momentan beispielsweise die folgende: Ich habe keine Kinder und möchte mit meinem Geschäftsgewinn gerne etwas fürs Gemeinwohl tun – konkret: Design für Leute machen, die es sich normalerweise nicht leisten können. Design für die anderen 90 Prozent sozusagen.

Wenn es nicht Geld ist: Was ist für Sie Luxus?
Freiheit ist Luxus. Freiheit im Denken – und im Tun.

Ein schönes Schlusswort.
Vielen Dank für das Gespräch.

 

The Weekender
Ausgabe 7
2012