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The Boys Scout

Fashion

Eine Kölner Modelagentur spielt ganz oben in der High Fashion mit. Die Inhaberin Eva Gödel ist bekannt für ihre Streetcastings. Mit ihrem Verständnis von Ästhetik beeinflusst sie den Blick auf die männliche Schönheit. Fündig wird sie in Einkaufsmalls und Fußgängerzonen – eine unglamouröse Arbeit für ein glamouröses Business.

„Ich brauche dreißig Asiaten!“ Eva Gödel sitzt mit sechs Mitarbeitern in der Küche ihrer Kölner Modelagentur, auf dem Tisch dampft grünes Hühnchencurry, alle sind sehr hungrig. Die 41-Jährige ist die Chefin von Tomorrow Is Another Day und fährt sich gerade zum zigsten Mal nervös durch den blonden Bob. Sie steht unter Druck. In fünf Wochen ist die nächste Balenciaga-Show und Demna Gvasalia, der Kreativdirektor, wünscht Modelle mit asiatischem Look.

Dreißig Vorschläge für asiatische Modelle wird sie Demna unterbreiten, dazu etwa neunzig weitere Jungs unterschiedlicher Provenienz vorstellen. Das macht einhundertzwanzig Vorschläge, von denen dann etwa ein Viertel angenommen wird. Dafür ist Eva wochenlang auf der Straße. Demna lässt alle Modelle seiner Männerschauen exklusiv von ihr scouten. Das ist eine Besonderheit – und ein großer Kraftakt. Dabei ist Eva gerade erst von den Männerschauen in Paris zurück und hat sich einen hartnäckigen Husten mitgebracht.

Die letzten Wochen waren arbeitsintensiv. Mailand, Paris, London, New York: Die Männermodels von Tomorrow Is Another Day sind momentan international sehr gefragt. Manches Mal ging erst um zwei Uhr nachts das Licht im Kölner Hinterhof aus. Und um sechs schon wieder an. Nun also Balenciaga. Die Jungs müssen groß sein. Die Latte liegt bei 1,88 m. Nicht gerade die Regel unter Asiaten. Und sie brauchen das gewisse Etwas. Eine einzigartige Ausstrahlung, ein besonderes Gesicht. Solche Jungs sind so selten wie ein weißer Trüffel. „Es ist wirklich ein bisschen wie Pilze suchen“, lacht Eva. „An manchen Tagen laufe ich stundenlang durch die Stadt und finde keinen einzigen Jungen, der infrage kommt.“

Eva Gödel ist bekannt für ihr scharfes Auge und einen untrüglichen Instinkt. Oft sind es recht unglamouröse Orte, an denen sie scoutet: Fußgängerzonen, Einkaufsmalls, Game Conventions, Konzerte, Fast-Food-Restaurants. Dort eben, wo sich Heranwachsende gerne aufhalten. Bevor sie einen Jungen anspricht, umkreist sie ihn, nimmt ihn ins Visier. Wie bewegt er sich? Wie ist sein Profil? Was strahlt er aus? Oft merken die Jungs, dass sie beobachtet werden, und sind irritiert. Und wenn Eva sie dann anspricht, nicht selten total überrascht. Die klassischen Schönheiten stehen nämlich nicht auf Evas Wunschliste – und die meisten Jungs hätten nicht im Traum daran gedacht, sich als Model zu bewerben. Denn sie haben Hakennasen, Segelohren, Zahnspangen, dünne Arme, spitze Schulterblätter. Evas Schönheitsempfinden hat so gar nichts mit dem glatten, muskelbepackten Beau zu tun, der sich einst für Davidoff in ‚Cool Water‘ aalte. Für Gödel zählt Einzigartigkeit, eine angeborene Lässigkeit. Symmetrie und ein offen zur Schau getragenes Selbstbewusstsein hingegen sind weniger gefragt.

Und offenbar trifft die studierte Kommunikationsdesignerin mit ihrem Verständnis von Ästhetik ins Schwarze. Die Kundenliste von Tomorrow Is Another Day liest sich wie das Who’s who der Modebranche. Hermès, Prada, Gucci, Louis Vuitton, Dior, Vetements, Rick Owens, Calvin Klein, Burberry und eben Balenciaga. Kaum eine Größe in der High-Fashion-Welt, mit der Eva noch nicht zusammengearbeitet hat. 250 Jungs hat sie mit ihrer Agentur unter Vertrag, Tendenz steigend. In diesem Januar waren allein siebzig Modelle in Paris auf der Fashion Week unterwegs. Ihre Reisen und Unterkünfte zu buchen, ihre Termine zu koordinieren, sie morgens mit einem Wake-up-Call zu wecken und abends zum Essen zu treffen, die Casting-, Fitting- und Schauentermine jedes Einzelnen zu koordinieren, erfordert viel Organisationstalent. „Eva, das sind drei Schulklassen, die du da betreust“, rechnet ihre Mutter, eine ehemalige Lehrerin, in ihrer eigenen Währung vor. „Warum tust du dir das an?“

Warum sie sich das antut? Die Frage stellt sich für Gödel gar nicht, dazu ist sie viel zu beschäftigt. Bei unserer Ankunft in der Agentur beginnt sie noch vor dem ersten Kaffee Unterlagen abzuheften. Eva Gödel bewegt sich mit burschikosen, ausholenden Schritten, ganz so, wie sie es ihren Jungs auch für den Laufsteg beibringt. Für den heutigen Tag hat sie einen Bewerber zu sich eingeladen, was eher die Ausnahme ist. Wer sich bewirbt, ist ihr meist zu glatt, muskulös und womöglich sonnenbankgebräunt. Marc, aus dem schweizerischen Zug angereist, scheint aber passend. Er ist siebzehn, hat haselnussbraune Augen, halblange, mittelblonde Haare und steckt in einer weiten Cropped-Jeans mit ausgefranstem Saum. Dazu ein kariertes Hemd, Strickjacke, Chucks. Fast könnte man meinen, er wäre nur eben auf einen Kaffee vorbeigekommen, die erwünschte Lässigkeit ist also gegeben. Eva hat Marc nach Köln bestellt, um Probeaufnahmen zu machen. Zunächst wird er in dem Outfit fotografiert, in dem er gekommen ist, dann mit nacktem Oberkörper, später in Shorts. Eva schießt die Fotos selbst, während sie abwechselnd kleine Anweisungen gibt und dem Neuling Komplimente zuruft – eine Mischung, die Wunder wirkt. Marc ist schon nach zehn Minuten deutlich entspannt, sein Blick wird selbstbewusster.

Beim Lauftraining entpuppt sich Marc als Talent. „Den sehe ich bei Balenciaga“, sagt Gödel. Nach 15 Jahren im Business hat sie die Profilanforderungen ihrer wichtigsten Kunden verinnerlicht. Ihre Aufgabe ist es, diese Wünsche zu kennen und den Kunden die richtigen Jungs vorzuschlagen. Richtig, das heißt momentan vor allem möglichst exotisch. Ethnisch gemischte Typen sind gefragt, je ungewöhnlicher, desto besser. Also Jungs, die halb Pakistani, halb Schotte sind oder zur Hälfte Italiener und zur anderen Nigerianer. Diese optische Vielfalt kann Indiz und Motor für ein gesellschaftliches Umdenken sein, findet Eva. Und sie freut sich, mit ihrer nonkonformistischen Ästhetik, die durch die weltweit verbreiteten Modestrecken, Kampagnen und Schauen auch das allgemeine Bild männlicher Schönheit prägt, dazu beitragen zu können.

Doch aller Individualität zum Trotz: Ein paar Schönheitsregeln gelten schon. Gezupfte Augenbrauen, Schaufelgang, X-Beine oder Bauchansatz sind No-Gos, sie machen die Jungs „unverbuchbar“, wie Gödel im Bookerslang erläutert. Im gleichen Atemzug erklärt sie, warum sie sich auf Männermodels spezialisiert hat. Abgesehen davon, dass sie einen besseren Blick für Jungs habe, sei es schlicht viel einfacher, schlanke Männer zu finden. Im gefragten Alter, also zwischen sechzehn und zwanzig, können die männlichen Heranwachsenden offenbar nahezu alles essen, ohne zuzunehmen. „Wenn die Schlankheit unserer Modelle eine psychische Ursache hätte, würden wir das schnell merken. Wir müssen auch Liebeskummer und Heimweh sofort erkennen und entsprechend reagieren. Es ist sehr wichtig, dass es den Jungs rundum gut geht, da wir uns Ausfälle und Nichterscheinen aufgrund psychischer Probleme in diesem Kundenkreis schlichtweg nicht erlauben können. Glücklicherweise waren wir noch nicht mit Magersucht konfrontiert, was auch daran liegen mag, dass unsere Jungs ja zumeist gar nicht darauf aus waren, im Modelbiz zu arbeiten.“ Zudem ist inzwischen für alle, Frauen wie Männer, ein ärztliches Attest vorgeschrieben. Es bescheinigt den Body-Mass-Index, wie der Quotient aus Größe und Gewicht heißt, und muss bei den Kunden vorgelegt werden. Dies soll helfen, Magersucht auszuschließen. Dennoch: Schlank sind die Jungs alle. Schließlich müssen sie in die Mustergrößen passen.

Hans begegnen wir beim Scouten vor der Kölner Universität. Kein Name wäre treffender: dünne Endlosbeine, Wuschellocken, spitze Nase, Hornbrille. Der Hans nach Paris? Seine Kommilitonen aus dem Kunstgeschichtsstudium schütteln ungläubig die Köpfe. Aber der spannenlange Schlacks ist großer Rick-Owens-Fan und total aus dem Häuschen, als Eva ihm den amerikanischen Designer als Referenz nennt. Ja, ja, er wäre gern dabei, freut sich Hans, und ja, Probeaufnahmen, kein Thema. So hat Eva Gödel am Ende des Tages gleich zwei neue Jungs in der Kartei. Das ist das Doppelte eines durchschnittlichen Scoutingtages. Fehlen nur noch dreißig Asiaten.

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