← PrevLufthansa Exclusive – HearDis
Next →Lufthansa Exclusive – Club der Visionäre

„I don’t believe in leisure time“

Art & Culture

Eine blonde Frau auf einer Strandliege, sie arbeitet an ihrer Urlaubsbräune. Die Augen sind zum Schutz vor der Sonne abgedeckt, die Beine leicht geöffnet. War es ein Voyeur, der sie vom Fußende ihrer Liege aus fotografiert hat? Nein. Martin Parr, der diese Szene 2000 am Strand von Knokke in Belgien einfing, legte den Fokus auf die Sandkörner, die am rechten großen Zeh der jungen Dame kleben. Und mit dem Umlenken des Blicks auf dieses scheinbar unbedeutende Detail ändert er das Narrativ der Geschichte, verleiht ihr Poesie.

Parr gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Dokumentarfotografen. Nun widmet ihm das NRW-Forum Düsseldorf die größte bislang gezeigte Retrospektive. 400 von Parrs Fotografien werden vom 19. Juli bis zum 10. November 2019 präsentiert, darunter auch einige neue und erstmals ausgestellte frühe Arbeiten.

„Wenn ich in einem Jahr zehn brauchbare Fotos mache, dann ist es ein gutes Jahr“, sagt Martin Parr, der zur Eröffnung seiner Ausstellung angereist ist. Der Brite porträtiert das Freizeit- und Konsumverhalten der westlichen Welt, bisweilen in seinen extremen Ausprägungen. Er ist Chronist der modernen Leidenschaften: „Wenn die Leute beim Betrachten meiner Bilder gleichzeitig weinen und lachen, dann ist das genau die Reaktion, die die Bilder auch bei mir hervorrufen. Die Dinge sind weder grundsätzlich gut noch schlecht. Ich bin immer daran interessiert, beide Extreme darzustellen.“ Parr ist in der Lage, aus einem flüchtig eingefangenen Moment ein komponiertes Bild entstehen zu lassen. Eine schmuckbehangene Kreuzfahrttouristin in Yucatán, eine gleichgeschaltet wirkende asiatische Reisegruppe auf der Akropolis, regendurchweichte Wanderer in Plastikponchos am Machu Picchu. Um die Absurdität unserer Welt einzufangen, ist dem 67-Jährigen kein Weg zu weit.

Doch Parr interessiert sich nicht nur für die Konsumenten, auch die Konsumgüter selbst habe es ihm angetan. Er zeigt sie in ikonischen Stillleben: Doughnuts mit grellfarbenem Zuckerüberguss, Billig-Uhren mit Madonnen-Ziffernblatt. Die von Kitsch und Trash übersättigte Gesellschaft spiegelt sich in den Parr’schen Farben, die wie zu dick aufgetragen wirken. Ein Stilmittel, das ihn seit Jahrzehnten begleitet: das Blitzlicht. Er nennt den Effekt „Kiss of Light“. Der rückt die dargestellten Szenarien in ein noch unbarmherzigeres Licht.

Ist Parr ein überheblicher Misanthrop? Nein? Er ist genauer Beobachter. Der Blick, mit dem er der Welt begegnet, ist präzise, soziologisch. Die Closeups mögen schonungslos wirken, die Anschnitte Unbehagen auslösen, Ironie und britischer Humor prägen Parrs Aufnahmen. Aber böse? „Ich liebe Menschen“, sagt er in seinem feinen britischen Englisch. Man glaubt es ihm. Eigens für die Ausstellung im NRW-Forum hat er 80 Düsseldorfer Hobbygärtner porträtiert, in ihren Lauben. Während der Vernissage mischt er sich in Karohemd und Birkenstocks unter die Gärtner, die zahlreich erschienen sind. Er könnte einer von ihnen sein.

Neben der Serie „Kleingärtner“ wählte Kurator Ralf Goertz unter anderem Werke aus „Think of England“ (1996–2003), „Luxury“ (1997–2011) und „Common Sense“ (1999). Die Schwarz-Weiß-Bilder von Parrs Debütarbeit „Bad Weather“ (1975–1982) sind in Düsseldorf erstmals in diesem Umfang zu sehen.„Mein Fokus lag auf Schlüsselserien“, erklärt Goertz seine Entscheidung. Und so zeigt er auch „The Last Resort“ (1983–1986) Parrs erste Farbfotoserie, die im Badeort New Brighton entstand und seinen künstlerischen Durchbruch bedeutete. Das Prekariat im Sonntagsstaat beim Wochenendvergnügungen, die Alltagsflucht der britischen Unterklasse: Die Realität, sie besteht aus Junk-Food, zeternden Kindern und Wohlstandsmüll. Es scheint, als suche Parr das Hässliche im Schönen, stieße dabei aber auch auf das Schöne im Hässlichen.

Ist es gestattet, den Massentourismus, den Treibhauseffekt, die fehlende Nachhaltigkeit der westlichen Welt unterhaltsam zu kritisieren? Parr findet schon. Humor schütze auch davor, alles zu eindimensional zu denken. Wie er selbst seine Freizeit verbringt? „Ich habe keine. Ich glaube nicht an Freizeit“, sagt Parr mit einem kurzen Lachen. Nächste Woche fährt er nach Schottland. Dort wird er auch Landschaftsaufnahmen machen. „Das wird schwierig für mich. Schöne Dinge fotografiere ich nicht gerne.“

 

Wallpaper Online
20. Juli 2019